Mit Mut durchs Leben gehen

„Hoppla, da kommt aber eine selbstbewusste Frau herein.“ - Das war der erste Eindruck, den wir von Kerstin Woyke bekommen haben. „So, dann kann es ja losgehen“, sagte sie ganz selbstverständlich und lächelte uns an. Losgehen sollte etwas, was weder sie noch wir je zuvor gemacht hatten. Wir sollten mit einem Menschen mit Beeinträchtigung, den wir zuvor nicht kannten, ein Interview führen, in dem dieser Menschen uns aus seinem Leben erzählt. Für Kerstin Woyke kein Problem.


Aber wer sind wir eigentlich?

Unsere Namen sind Leona Tatge und Janika Frohreich. Wir kennen uns bereits aus der Ausbildung zu Heilerziehungspflegern, die wir beide an der Fachschule der PLSW gemacht haben. Nun machen wir dort eine Weiterbildung zu Heilpädagoginnen - neben unserem Beruf, den wir beide in Kinderkrippen ausüben.

So, wie Kerstin Woyke hereingekommen ist, haben wir sie auch im Interview erlebt: offen und ohne jede Scheu bereit, uns von dem zu erzählen, was ihr Leben ausmacht und was es geprägt hat. Ihre Mutter Heide Woyke hatte sie mitgebracht – und das bereicherte unser Gespräch noch mehr.

Heide Woyke hat mit der PLSW nicht nur durch ihre Tochter viele Berührungspunkte, sondern auch durch ihren Beruf: Seit Jahrzehnten arbeitet sie als Busfahrerin bei einem Unternehmen, das auch für die PLSW tätig ist.

Fünf Jahre alt war Kerstin Woyke, als sie endlich laufen lernte. Bereits als Kind musste sie eine große Operation an einem Fuß über sich ergehen lassen. Dementsprechend lange dauerte es, bis sie im wahrsten Sinne des Wortes „auf die Füße“ kam. Berührend ist der Moment gewesen, als ihre Mutter davon erzählte, dass sie von jenem Tag, als Kerstin laufen lernte, immer noch einen Zettel aufbewahrt. Kerstins Kindergärtnerin hat es der Mutter damals aufgeschrieben, damit dieser Augenblick nicht vergessen werden kann. „Kerstin läuft ohne Aufforderung und freut sich wie ein Schneekönig!“, steht darauf. Der Zettel wird im Haus Woyke gehütet wie ein Schatz – stellt er doch den Aufbruch Kerstins zu einem selbstbestimmteren Leben dar.

Nur wenig später stand die Familie vor der Frage, welche Schule Kerstin besuchen soll. Eine Förderschule? Oder sollte sie in eine Tagesbildungsstätte geschickt werden? Heide Woyke war hin- und hergerissen. Eine Bekannte erzählte ihr von ihrer eigenen Tochter, die eine Hasenscharte hatte, auf die Förderschule kam – und deswegen nur gehänselt wurde. „Wichtig ist, was für das Kind gut ist“, sagte sich Heide Woyke – und entschied, dass Kerstin die Tagesbildungsstätte, in der sie schon als Kindergartenkind war, weiterhin besuchen sollte. Auch wenn sie dort keinen Schulabschluss im eigentlichen Sinne machen konnte. Hänseleien sollte ihre Tochter nicht ausgesetzt sein.


„Wichtig ist, was für das Kind gut ist!“

Lesen, schreiben und rechnen hat sie dort gelernt, hatte Spaß am Werk- und Schwimmunterricht. Damit war sie zufrieden – und bekam auch die Chance, ihre Stärken auszubauen. Die liegen unter anderem in ihrem technischen Verständnis. „Wenn bei uns der Videorekorder eingestellt werden muss, kommt Kerstin ran“, sagt ihre Mutter. Dieses technische Verständnis kommt ihr auch bei ihrer Arbeit zugute. Von der Tagesbildungsstätte kam sie 1995 im Alter von 19 Jahren in die Lothar-Wittko-Werkstatt der PLSW. Seitdem arbeitet sie dort im Montagebereich. 25 Jahre werden es nun schon. „Ich arbeite da sehr gerne“, sagt sie.

Vielleicht weil Kerstin Woyke keine „reguläre“ Schule besucht hat, weil sie nicht im „ersten Arbeitsmarkt“ arbeitet, war es Mutter und Tochter besonders wichtig, uns von Kerstins Konfirmation zu erzählen. Davon, dass sie „ganz normal“ konfirmiert wurde. Und davon, dass diese Konfirmation nicht nur für sie ein außergewöhnliches Erlebnis war. Einer Prüfung, wie sie die anderen Konfirmanden im Gottesdienst ablegen mussten, sollte sie nicht unterzogen werden. Der Pastor besann sich jedoch auf zwei weitere Stärken Kerstins: Ihre schöne Stimme und ihren Mut. „Ich würde auch vor 5.000 Leuten singen oder sprechen“, sagte Kerstin Woyke zu uns. 5.000 waren es nicht in der Kirche in Heuerßen, in der sie statt einer Konfirmations-Prüfung ganz allein das Lied „Gottes Liebe ist wie die Sonne“ sang, ein großes Publikum aber dennoch. Tränen in den Augen und Gänsehaut – das seien die Reaktionen gewesen, während Kerstin sang, erzählt ihre Mutter. Und Beifall im Anschluss. Mitten im Gottesdienst.


„Ich würde auch vor 5.000 Leuten singen!“

Glücklich schwelgt Kerstin Woyke auch in einer anderen Erinnerung aus ihrer Jugendzeit. Eine ihrer liebsten Fernsehsendungen war das „Glücksrad“ – und ihre Eltern arrangierten es zu ihrem 19. Geburtstag, dass sie dort im Publikum sitzen durfte. Gemeinsam mit ihrem Vater fuhr sie dorthin – und weil es ein derart großes, schönes und außergewöhnliches Erlebnis in ihrem Leben war, machten ihre Eltern es noch drei weitere Male möglich. Lachend berichtet sie davon, dass ihr Vater bei einem dieser Besuche sogar Saalkandidat war und sich Preise aussuchen durfte. Und dass sie bei zwei Besuchen ihren heimlichen Schwarm Frederic Meisner live erlebte. Den, der heute schon weißhaarig sei…

So freudig, wie Kerstin Woyke sich an viele Dinge aus ihrer Vergangenheit erinnert, so sehr sie zufrieden ist mit ihrem jetzigen Leben, so realistisch schaut sie in die Zukunft. Momentan lebt sie noch bei ihren Eltern. Das soll sich in zwei Jahren aber voraussichtlich ändern. „Meine Eltern werden auch nicht jünger“, sagt sie und lacht. Deshalb denkt sie darüber nach, in ein Wohnhaus der PLSW zu ziehen.

Die Zeit drängt aber noch nicht. Kerstin Woyke will nichts überstürzen. Wenn sich ein schöner Platz für sie in Stadthagen ergibt – dann fasst sie das ins Auge. „Es wird ein bisschen komisch werden“, meint sie zu der Aussicht, mitten in ihren 40er Jahren von zu Hause wegzuziehen. Erst einmal stehen noch andere Dinge auf dem Plan. In der Woche nach dem Interview will sie mit ihren Eltern nach Mallorca fliegen – das ist zunächst wichtiger.

Zum Ende des Interviews hat sich Kerstin bei uns bedankt: „Ich fand es toll, dass ihr mir zugehört habt. Vielen Dank.“

Das Zuhören ist uns nicht schwergefallen. Uns hat es viel Freude bereitet, dieses Interview mit ihr und ihrer Mutter zu führen. Wir haben Kerstin als sehr herzliche und offene Frau wahrgenommen. Und ihren Mut bewundert.

Wie dieses Gespräch zwischen uns vier Frauen auf uns alle gewirkt hat, zeigte sich am ehesten in der Art, wie wir uns verabschiedet haben: Wir haben uns alle fest in den Arm genommen!


Das Interview mit Kerstin Woyke und ihrer Mutter Heide haben Janika Frohreich und Leona Tatge geführt.

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